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Quereinstieg als Chance begreifen

Der Lehrkräftemangel in Niedersachsen ist enorm. Einerseits sind vor allem Grundschulen dringend auf Quereinsteiger angewiesen, um den Unterrichtsbetrieb überhaupt aufrecht erhalten zu können.

Dem steht eine Anerkennungspraxis seitens des Kultusministeriums entgegen, die nicht an guten Lösungen für die jeweilige Schule orientiert zu sein scheint, sondern die „grundständige Lehrkräfteausbildung“ propagiert. Das führt in der Praxis dazu, dass seit Jahren bewährte Vertretungskräfte selbst mit einem abgeschlossenen Studium nicht als Quereinsteiger eingestellt werden können.

Eine Forderung des Verbandes Leitungen Niedersächsischer Grundschulen – LNGS ist deshalb: Die Schulleitungen müssen mit der Kompetenz ausgestattet werden zu entscheiden, wer für den Quereinstieg geeignet erscheint.

Ein großes Hindernis für die Gewinnung von Nachwuchs ist der schlechte Ruf der „grundständigen Lehrkräfteausbildung“. Das Lehramtsstudium wird von 80% der Berufseinsteiger als praxisfern beurteilt. Im Referendariat fühlen sich rund 60% der angehenden Lehrkräfte überlastet. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW.

Die Lehrkräfteausbildung hat sich seit 50 Jahren nicht wesentlich verändert. Sie ist hinsichtlich der aktuell gesellschaftlich relevanten Themen Demokratieförderung, Nachhaltigkeit und Inklusion überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Nötig wäre ein Lehramtsstudium mit deutlich mehr Praxisanteilen und eine zweite berufsbegleitende Phase der Qualifizierung an einer Ausbildungsschule, eng begleitet mit den notwendigen Anteilen an Theorie, kollegialer Beratung und Supervision. Statt wie bisher mit einer zweiten Staatsprüfung sollte die Ausbildung mit der Aussage „geeignet“ oder „nicht geeignet“ enden.

Experten gehen davon aus, dass der Lehrkräftemangel mindestens 10, möglicherweise sogar 20 Jahre andauern wird. Also wird es ohne Quereinsteiger nicht gehen. Es gibt wegen der jahrzehntelangen verfehlten Politik der Kultusministerien bundesweit gar keine Alternative. Anstatt an nicht praxistauglichen Anforderungen für den Quereinstieg festzuhalten, sollten die Kultusministerien bei der Personalauswahl auf die Kompetenz der Schulleitungen vor Ort setzen, die im günstigen Fall geeignete Bewerber kennt und einschätzen kann. Die Schulleitungsexpertise ist seitens des Kultusministeriums in Hannover allerdings gar nicht gefragt. Stattdessen müssen Schulleitungen, zur Handlungsunfähigkeit verdammt, diesen Mangel verwalten und zum Beispiel Eltern gegenüber auch noch verantworten. Es herrscht seitens des Kultusministeriums eine Kultur des Verhinderns, nicht des Ermöglichens, guter Lösungen vor. Man muss sich fragen, wo eigentlich das Problem gesehen wird: Sollte sich eine Anstellung als Quereinsteiger als ungeeignet erweisen, gibt es wie in jedem anderen Arbeitsverhältnis eine Probezeit.

Angesichts der alarmierenden Ergebnisse von aktuellen Bildungsstudien für Grundschulen (IQB-Bildungstrend; IGLU: ein Viertel der Grundschüler:innen können Ende der 4. Klasse nicht ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen!) braucht es dringend innovative Ideen, befreit von bürokratischem Ballast. Eine dieser wissenschaftlich bewiesenen wirksamen Ideen ist der Einsatz von festen Klassenassistenzen statt Schulbegleitungen. Wovon das Kultusministerium in Hannover aber nichts wissen will.

Die Wissenschaftler hinter diesen Bildungsstudien identifizieren erneut vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien und solche mit Migrationshintergründen als Bildungsverlierer. Und das mehr als 20 Jahre nach dem Pisa-Schock, der Bildungspolitiker sämtlicher Couleur beteuern ließ, diesen Kindern und Jugendlichen bessere Lernbedingungen schaffen zu wollen. Passiert ist indes fast nichts. Weder hat man die Lehrerausbildung angefasst, noch hat man auskömmlich in Bildung investiert. Vor allem nicht dort, wo Bildungsbiografien angelegt werden: In Kita und Grundschule.

Man muss konstatieren: Unsere im Einsatz befindliche grundständig ausgebildete Lehrerschaft hat es nicht geschafft – konnte es auf Grund der eigenen praxisfernen Ausbildung und unnötiger behördlicher Überregulierung nicht schaffen – das Schulsystem vor diesen katastrophalen Ergebnissen etlicher Bildungsstudien zu bewahren.

Deshalb müssen wir aus der Not eine Tugend machen und Quereinstieg als große Chance begreifen. Wir sollten die Chance wahrnehmen, dass Quereinsteiger mit ihren eigenen und besonderen Bildungs- und Berufsbiografien jene 25 % der Schüler, die wir bisher nicht erreichen, möglicherweise besser motivieren können.

 

Jörg Bratz, Vorsitzender

Pressemitteilung vom 6.11.2023